Status: | Beschluss |
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Beschluss durch: | DBJR Vollversammlung 2023 |
Beschlossen am: | 28.10.2023 |
Antragshistorie: | Version 3 |
Mentale Gesundheit junger Menschen in Krisenzeiten stärken!
Beschlusstext
1. Einleitung
Junge Menschen wachsen in einer Gesellschaft auf, die von sozialen, ökologischen
und ökonomischen Krisen gekennzeichnet ist. Die multiplen Krisen beeinflussen
das Aufwachsen junger Menschen in mehrfacher Weise. So wird durch ein
Aufwachsen, das fast nur Krisenzeiten kennt, unter anderem die mentale
Gesundheit junger Menschen beeinträchtigt. Die Zahl junger Menschen, deren
mentale Gesundheit[1] beeinträchtigt ist, steigt seit Jahren besorgniserregend
an.
Ebenso entwickeln immer mehr junge Menschen eine psychische Erkrankung.[2]
Psychische Belastungen stellen die größte Krankheitslast im Kindes- und
Jugendalter dar. Im Jahr 2021 waren psychische Erkrankungen und
Verhaltensstörungen die häufigste Ursache für stationäre Krankenhausbehandlungen
von Kindern und Jugendlichen.[3] Dabei ist es wichtig klarzustellen, dass nicht
jedes Krisenerleben bei jedem jungen Menschen zu einer Beeinträchtigung der
mentalen Gesundheit führt. In einem gewissen Umfang gehören insbesondere
persönliche Krisen zum Aufwachsen dazu.[4] Auch steht nicht jede
Beeinträchtigung der mentalen Gesundheit in einem kausalen Zusammenhang mit der
Entwicklung einer psychischen Erkrankung und die Grenzen sind hier häufig
fließend. Die Beeinträchtigung der mentalen Gesundheit junger Menschen und das
Auftreten psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen können multiple
und neben umweltbedingten auch individuelle genetische oder neurobiologische
Ursachen haben. Meist entstehen sie in einer komplexen Wechselwirkung
unterschiedlicher Faktoren. Bevor wir diese Faktoren exemplarisch darstellen ist
es uns wichtig zu betonen, dass junge Menschen weder als homogene Gruppe
betrachtet werden können, die als ganze Generation belasteter ist als andere
Generationen. Gesellschaftlicher Wandel trägt auch dazu bei, dass psychische
Belastungen sichtbarer sind als in früheren Generationen. Gleichzeitig muss die
anstehende Zahl psychischer Erkrankungen als dringliches Warnsignal ernst
genommen werden, dem zwingend auf unterschiedlichen Ebenen begegnet werden muss.
Weiterhin stellen sie keineswegs eine defizitäre oder labile Gruppe dar. Trotz
der vielen Krisen, mit denen sie konfrontiert sind, engagieren und organisieren
sie sich, bringen sich in gesellschaftliche Debatten ein, entwickeln
individuelle und kollektive Handlungsstrategien und Lösungen und übernehmen in
einem hohen Maße Verantwortung für ein funktionierendes gesellschaftliches
Zusammenleben.
2. Gesamtgesellschaftliche und individuelle Belastungen
Ursachen psychischer Belastungen junger Menschen können die diskriminierende
Beschaffenheit gesellschaftlicher Strukturen und damit oft verknüpftes Mobbing,
die vielfältig auftretenden globale Krisen („Dauerkrisenmodus“), die steigenden
gesellschaftlichen Anforderungen an junge Menschen oder aber die individuelle
Herausforderung, den Übergang in das Erwachsenenleben zu gestalten, sein. Die
nachfolgenden Ausführungen beschreiben die gesellschaftlichen Strukturen, die
das Aufwachsen junger Menschen in der heutigen Zeit prägen und reale Belastungen
für ein gesundes Aufwachsen darstellen können.
2.1. Ungleiche und diskriminierende Gesellschaftsstrukturen
Wir leben in einer von strukturellen Diskriminierungen durchzogenen
Gesellschaft. Junge Menschen wachsen in einer Gesellschaft auf, die ihre
Mitglieder nach Alterszugehörigkeit einteilt und in verschiedener Hinsicht, etwa
in den Bereichen Rechte, Pflichten, Teilhabe und zugeschriebene Bedürfnisse,
klar zwischen Altersgruppen unterscheidet. Bei dieser Einteilung der
Gesellschaft nach Alter werden aber nicht nur Unterschiede aufgrund biologischer
Entwicklungsprozesse abgebildet, sondern es wird zusätzlich eine Ungleichheit
auf Basis von nicht belegbaren Zuschreibungen konstruiert, die untrennbar mit
weiteren Dimensionen sozialer Ungleichheit verknüpft ist. Diese Form der
Diskriminierung nennt sich Adultismus und sie wird vor allem von Kindern und
Jugendlichen erlebt.[5]
Weiterhin prägen insbesondere rassistische und antisemitische Diskriminierungen,
Diskriminierungen aufgrund einer Behinderung und Diskriminierungen aufgrund der
Geschlechtsidentität oder der sexuellen Orientierung, die oftmals intersektional
Wirkmacht entfalten, unser Zusammenleben auf struktureller, institutioneller und
interaktionaler Ebene.[6] Gerade in Bezug auf mentale Gesundheit gibt es
spezifische Belastungen, die weder durch systemische Strukturen noch eine
ausreichende diskriminierungssensible Forschung berücksichtigt werden. Bei
jungen Menschen, die unmittelbar von Diskriminierungen betroffen sind, kann dies
langfristige Auswirkungen auf ihre mentale Gesundheit mit sich bringen. So
belegen beispielsweise mehrere Studien, dass wahrgenommene und erlebte
Diskriminierung und Ausgrenzung spezifische nachteilige Auswirkungen auf die
psychische Gesundheit von Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sowie
Minderheiten und People of Colour haben.[7] Rassistische Diskriminierungen
können bei der Entwicklung psychiatrischer Störungsbilder, wie z.B. Depressionen
und Angst- und Belastungsstörungen, eine wichtige und meist nicht beachtete
Rolle spielen. Gleiches gilt für die Folgen von Fluchterfahrungen geflüchteter
Menschen. Weiterhin belegen Studien eine zunehmende psychische Belastung von
Mädchen und Frauen. Bedingt wird dies maßgeblich durch soziokulturelle Einflüsse
und Erwartungen an das zugewiesene Geschlecht. Auch die Unterschiede im
Gesundheitsverhalten von jungen Menschen können auf gesellschaftliche
Bedingungen und die von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechterrollen
zurückgeführt werden. Dies hat auch und gerade bei Mädchen und jungen Frauen
negative Auswirkungen auf die Gesundheit und zeigt, wie stark gesellschaftliche
Vorstellungen von Geschlechterrollen und die damit verbundenen Normen den Druck
beeinflussen, dem insbesondere Mädchen und junge Frauen in verschiedenen
sozialen Umgebungen ausgesetzt sind. [8]
Ebenso ist unsere Gesellschaft von sozialen Ungleichheiten geprägt. Die
Erkenntnis, dass in Deutschland eine massive soziale Ungerechtigkeit existiert,
ist nicht neu. Sie verschärft sich jedoch, auch im Zusammenhang mit globalen
Krisenphänomenen, zunehmend. Die Armutsgefährdungsquote junger Menschen steigt
in Deutschland stetig an. Im Jahr 2022 lag die Armutsgefährdungsquote von
Kindern in Deutschland bei 21,6%, das heißt, 21,6% der Kinder waren von
relativer Einkommensarmut betroffen.[9] Das Aufwachsen in Armut führt in beinahe
allen Bereichen des Lebens zu Benachteiligungen. So können von materieller Armut
betroffene Kinder und Jugendliche häufig nicht oder nur bedingt am
gesellschaftlichen Leben teilhaben und sind überproportional von Einsamkeit
betroffen.
Ebenso ungleich verteilt sind die Bildungschancen in Deutschland. Der
Bildungserfolg junger Menschen hängt maßgeblich davon ab, über wie viel
soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital sie verfügen. Strukturelle
Ungleichbehandlungen in der formalen Bildungslandschaft beeinflussen die Zukunft
junger Menschen, ihre individuellen Lebenschancen und ihre Möglichkeiten zur
Selbstverwirklichung und Teilhabe nachhaltig. Der durch Armut und/oder
Bildungsbenachteiligungen bedingte Ausschluss von gesellschaftlichen
Teilhabemöglichkeiten und der Möglichkeit, den eigenen Lebensweg individuell und
selbstbestimmt zu gestalten, stellt wiederum einen Risikofaktor für die mentale
Gesundheit junger Menschen dar.
2.2. Bedrohungen der Demokratie
Junge Menschen unterstützen in der überwiegenden Mehrheit die Demokratie als
politisches Ordnungssystem.[10] Mehr als sechs Millionen Kinder und Jugendliche
in Jugendverbänden und Jugendringen zeigen täglich, dass sie Verantwortung
übernehmen und das demokratische Zusammenleben mitgestalten können und wollen.
Gleichzeitig sieht sich die Demokratie in Deutschland damit konfrontiert, dass
ihr mit Skepsis begegnet oder sie gar offen angegriffen wird. Durch gestiegene
Wünsche nach Autorität und latent oder manifest auftretende Ressentiments gegen
vermeintlich „Andere“ gerät die Demokratie zusehends unter Druck.[11] In
Deutschland und auch europaweit beobachten wir mit Sorge das Zunehmen
autoritärer nationalistischer und rechtsextremer Bedrohungen, die eine
ernsthafte Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die individuellen
Freiheiten und die demokratischen Grundwerte darstellen und zu einem Anstieg von
Diskriminierung, Intoleranz, politischer Instabilität und rechter Gewalt führen
können.
Diese Dynamiken belasten die überwiegende Mehrheit der jungen Menschen, die sich
für ihre Zukunft ein friedliches und demokratisches Zusammenleben wünschen und
die mit der Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert, zufrieden sind.[12]
2.3. Junge Menschen im „Dauerkrisenmodus“
Globale Krisen wie die COVID-19-Pandemie, die Klimakrise und das Artensterben,
die Energiekrise in Europa und die Inflation wirken auf die geschilderten
gesellschaftlichen Dynamiken beschleunigend und verstärkend. Sie verschärfen
einerseits soziale Ungleichheiten, andererseits können Bemühungen, diese
multiplen Krisen zu bewältigen, in antidemokratische Einstellungen münden. Die
genannten globalen Krisen betreffen junge Menschen besonders. So haben junge
Menschen im Verlauf der COVID-19-Pandemie besondere Belastungen erlebt.[13] Die
Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie trafen junge Menschen unverhältnismäßig
hart. Im Mittelpunkt der Maßnahmen standen der Schutz vor Infektion von
vulnerablen und älteren Menschen, sowie der Schutz von Kapitalinteressen, wobei
der Schutz von arbeitenden Menschen dahinter zurückgestellt wurde. Kinder und
Jugendliche wurden während der verschiedenen Lockdowns nur als Schüler*innen,
Auszubildende und Studierende und somit als zukünftige Arbeitskräfte adressiert.
Und trotzdem wurde zu wenig in ihre Zukunftsperspektiven investiert. Das Recht
auf unverzweckte Freizeit und freie Entwicklung blieb hinter dem Pandemieschutz
völlig zurück. Jugendhäuser, außerschulische Bildungsstätten, Zeltlager, offene
Treffs aber auch Schulen und Spielplätze wurden geschlossen. Ferienfreizeiten,
politische, kulturelle und sportliche Angebote sowie andere Maßnahmen der
außerschulischen Jugendbildung und Jugendbeteiligung entfielen ebenso ersatzlos
wie die Möglichkeit für Gruppenstunden, Beratungsangebote und internationale
Begegnungen.[14] Dies alles führt dazu, dass sich das psychische Wohlbefinden
vieler junger Menschen verringerte und das Risiko für das Auftreten psychischer
Erkrankungen stieg. Eine besonders hohe Anfälligkeit zeigten hier sozial
benachteiligte junge Menschen.[15] Auch haben die Maßnahmen, die im Zuge der
COVID-19-Pandemie beschlossen wurden dazu beigetragen, dass Einsamkeit bei
jungen Menschen enorm zugenommen hat.[16] Mit Blick auf die politisch in Kauf
genommenen weitgehenden Einschränkungen insbesondere für junge Menschen wurden
diese in ihrer wichtigsten Entwicklungsphase erheblich beeinträchtigt. Die
starke Zunahme von Einsamkeit in diesen Altersgruppen als Folge der Maßnahmen
gegen die Pandemie wurde in der politischen Abwägung zu anderen Einschränkungen
häufig zu schnell zu gering gewichtet.[17] Vor allem junge Menschen, die
finanziellen Druck verspüren, nicht mehr zu Hause wohnen oder eine
Migrationsgeschichte haben sind besonders von Einsamkeit betroffen.[18]
Einsamkeit kann einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit junger
Menschen haben und psychische Erkrankungen mitunter sogar bedingen oder
zumindest verstärken. Trotz der besonderen Schwere der Einschränkungen für junge
Menschen haben diese sich solidarisch mit vulnerablen Gruppen der Gesellschaft
verhalten und ihre eigene Freizeitaktivitäten außerhalb institutioneller
Angebote eingeschränkt. In den gesellschaftlichen Diskursen um
„Öffnungsstrategien“ nach Abklingen des Infektionsgeschehens wurden Angebote für
junge Menschen allerdings oft gering priorisiert, was von einigen aufgrund ihres
eigenen solidarischen Zurücksteckens als Enttäuschung empfunden wurde.
Auch in den ökologischen Krisen gehören junge Menschen zu den vulnerabelsten
Gruppen.[19] Sie werden länger und damit auch massiver von den Folgen der
Klimakrise betroffen sein als ihre Eltern und Großeltern. Durch die Klimakrise
und die weiteren Umweltkrisen, die sich gegenseitig verstärken, erleben sie
enorme emotionale und psychische Belastungen.[20] Gleichzeitig sind junge
Menschen damit konfrontiert, dass ihre Sorgen und Ängste in Bezug auf die
Klimakrise sowie ihre vielfach entwickelten Ideen und Lösungsvorschläge für eine
sozial-ökologische Transformation auf der politischen Entscheidungsebene nicht
ausreichend Gehör finden. Dieses Phänomen wird auch Klimaangst genannt.
Ebenso beschäftigen junge Menschen Kriege und Auseinandersetzungen wie der
russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Unterdrückung der
Freiheitsbewegung im Iran und der Konflikt im Nahen Osten, die Energiekrise und
die gestiegene Inflation in Deutschland. Es ist somit angebracht, von einer
verdichteten Krisenzeit oder sogar von Jugend im „Krisenmodus“ zu sprechen. Die
ständige Konfrontation mit multiplen Krisen macht etwas mit jungen Menschen -
sie kann Stress oder Gefühle der Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
auslösen. Gleichzeitig sind junge Menschen nicht passiv - sie entwickeln Ideen
und Lösungen vor dem Hintergrund dieser multiplen Krisen, werden aber nicht
ausreichend an Entscheidungsprozessen beteiligt und in ihrem Engagement zu wenig
ernstgenommen und wertgeschätzt. Beispielhaft lässt sich die mangelhafte
Beteiligung junger Menschen daran illustrieren, dass es Menschen unter 18 Jahren
bei Bundestagswahlen und verschiedenen Wahlen auf Landes- bzw. kommunaler Ebene
weiterhin verwehrt wird, wählen zu gehen. Damit wird es jungen Menschen
abgesprochen, ihre Interessen und Bedarfe adäquat und vernehmbar zu
artikulieren. Zusätzlich sinkt aufgrund der Veränderung der Zusammensetzung der
Bevölkerung hin zu mehr älteren Menschen der zahlenmäßige Einfluss der jüngeren
Wahlberechtigten. Zusammengenommen führt dies dazu, dass die Interessen junger
Menschen auf politischer Ebene deutlich zu wenig Berücksichtigung finden.
Dennoch bringen junge Menschen ihre Interessen und ihre Expertise häufig in
politische und gesellschaftliche Diskurse ein, werden jedoch meist nicht
gleichberechtigt mit Erwachsenen gehört und von oftmals nicht als Akteur*innen
auf Augenhöhe zur Bewältigung von gesellschaftlichen Krisen wahrgenommen. Die
fehlenden Möglichkeiten wirksamer Beteiligung sind vor dem Hintergrund der
überproportionalen Betroffenheit junger Menschen an den genannten Krisen fatal.
2.4. Zunehmende Verengung selbstbestimmter Freiräume
Darüber hinaus nehmen wir wahr, dass sich durch die gegenwärtige Ausgestaltung
des formalen Bildungssystems das für die selbstbestimmte Alltagsgestaltung zur
Verfügung stehende Zeitbudget junger Menschen seit Jahren verringert. So
verbringen junge Menschen immer mehr Zeit in der Schule. Dies ist eine Tendenz,
die durch den Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung, Betreuung und Erziehung von
Kindern im Grundschulalter ab dem Jahr 2026 noch einmal steigen wird.
Auch Studierende sehen sich mit verengten Zeitfenstern konfrontiert. So hatte
die Bologna-Reform eine Verdichtung von Prüfungszeiträumen zur Folge.
Zusätzlichen Druck löst die Bindung des BAföG-Bezugs an die Regelstudienzeit
aus. Hinzu kommt, dass die zu geringe Höhe der Förderung einen Nebenverdienst
für viele Studierende obligatorisch macht.
Ebenso zu nennen sind die strukturellen Bedingungen für Auszubildende. Viele
Auszubildende machen Überstunden und erledigen Aufgaben, die mit ihrer
eigentlichen Ausbildung nichts zu tun haben. Knapp ein Drittel der
minderjährigen Auszubildenden kann keine Angabe dazu machen, ob und inwiefern
für geleistete Überstunden Freizeitausgleich genommen werden kann. Auszubildende
in weiblich dominierten Ausbildungsberufen fühlen sich in ihrer Ausbildung mehr
als doppelt so häufig überfordert als Auszubildende in den männlich dominierten
Ausbildungsberufen.In der Folge haben Auszubildende in den weiblich geprägten
Berufen mehr Probleme damit, nach der Arbeit „abzuschalten“ und sich in ihrer
Freizeit zu erholen.[21]
Somit haben sich selbstbestimmte Räume für junge Menschen zunehmend verringert.
Dabei sind es gerade diese Räume, in denen junge Menschen die Erfahrung machen,
etwas bewegen und die Entwicklung der Gesellschaft nach ihren Vorstellungen
konkret beeinflussen zu können. Diese Erfahrungen von Selbstwirksamkeit können
die Resilienz[22] junger Menschen stärken.
Die Möglichkeit, sich in selbstbestimmten Freiräumen zu bewegen und zu
entwickeln, hängt jedoch nicht nur von zur Verfügung stehenden zeitlichen
Ressourcen ab. Auch Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für
Selbstbestimmung, Emanzipation und Partizipation. Die Möglichkeit, sich
eigenständig fortbewegen zu können und dabei über Anlass, Ort, Zeit, und
Verkehrsmittel selbst zu entscheiden, ist eine wesentliche Voraussetzung für
gesellschaftliche Teilhabe, die jedoch beispielsweise von Armut betroffenen
Kindern und Jugendlichen, jungen Menschen im ländlichen Raum oder jungen
Menschen mit Behinderung häufig verwehrt bleibt. Insofern zeigt sich neben der
sich ohnehin abzeichnenden Verengung zeitlicher Verfügbarkeiten junger Menschen
eine massive Ungleichheit in der Art und Weise, wie diese wenigen freien
Zeitfenster von jungen Menschen genutzt werden können.
2.5. Zunehmender gesellschaftlicher Erfolgsdruck
Zusätzlich zu den Verengungen selbstbestimmter Freiräume sind junge Menschen in
Schule, Studium, Ausbildung und Beruf einem stetig ansteigenden Leistungsdruck
ausgesetzt. Die Wettbewerbsorientierung unserer Gesellschaft suggeriert jungen
Menschen, dass sie in verschiedenen Bereichen erfolgreich sein müssen, um in der
globalisierten Welt mithalten zu können. Dies führt zu einem erhöhten Druck,
sich ständig zu verbessern und stets herausragende Leistungen zu erbringen.
Junge Menschen konkurrieren in der Schule um gute Noten, um begrenzte Studien-
und Ausbildungsplätze und später um gute Arbeitsplätze. Sie befürchten oft, dass
schlechte Leistungen ihre Zukunftschancen beeinträchtigen könnten. Dass
Unternehmen in Deutschland dabei zunehmend keine Ausbildungsplätze mehr
anbieten, verschärft die Konkurrenz unter jungen Menschen. Das Angebot an
Ausbildungsplätzen ist dabei stark regional unterschiedlich und korreliert mit
den Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit.
Zwar gibt es in Deutschland EU-weit die geringste Jugendarbeitslosigkeit, doch
es ist ein starkes Ungleichgewicht zwischen Ost und West zu vermerken. So ist
die Jugendarbeitslosigkeit in Ostdeutschland mit einer Jugendarbeitslosenquote
von durchschnittlich 8.3 Prozent rund 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer
noch deutlich höher als im Westen.[23]
Insbesondere für junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, bedeutet
diese Situation letztlich Unsicherheit und fehlende Perspektiven. Ohne
Ausbildung landen viele junge Menschen langfristig im Niedriglohnsektor mit
schlechten Arbeitsbedingungen. Dies wirkt sich auf das gesamte Berufsleben bis
hin zur Rente aus. Die Chancen junger Menschen auf einen Ausbildungsplatz hängen
neben ihrem Wohnort und Schulabschluss ebenfalls von der sozialen Herkunft, dem
Geschlecht oder auch davon ab, ob sie von rassistischen Diskriminierungen
betroffen sind. Insbesondere sind Menschen mit Beeinträchtigungen bei der Wahl
des Ausbildungsplatzes benachteiligt. Ein weiterer Aspekt ist, dass jede*r
dritte Schüler*in mit einem Hauptschulabschluss den Sprung in die Ausbildung
nicht schafft.[24] Selbst wenn junge Menschen einen Ausbildungsplatz finden,
bedeutet dies im Umkehrschluss noch lange keinen sicheren Arbeitsplatz. Mehr als
vier von zehn Auszubildenden (42,3%) wissen selbst im letzten Ausbildungsjahr
noch nicht, ob sie von ihrem Ausbildungsbetrieb übernommen werden[25]. Dies
erzeugt eine große Unsicherheit für junge Menschen, die bereits mit
verschiedenen Herausforderungen im Übergang von der Schule zur Arbeitswelt
konfrontiert sind.
Zudem sehen sich junge Menschen mit psychischen Belastungen auf dem Arbeitsmarkt
oft mit Diskriminierung und Vorurteilen konfrontiert. Es ist aus unserer Sicht
nicht vertretbar, dass junge Menschen sich beispielsweise gegen die
Inanspruchnahme einer Psychotherapie entscheiden, weil sie fürchten, dadurch auf
dem Arbeitsmarkt benachteiligt zu werden. Auch diese Entscheidung gegen die
Anspruchnahme stellt ein Symptom systemischer Missstände dar.
Zugleich ist der Arbeitsmarkt komplexer und anspruchsvoller geworden, viele
Berufe erfordern höhere Qualifikationen und Fähigkeiten als in der
Vergangenheit. Auslandsaufenthalte, das Absolvieren unbezahlter Praktika und das
Beherrschen unterschiedlicher Sprachen sind in vielen Berufsfeldern zu gängigen
Anforderungen geworden. Häufig wird verkannt, dass die Erfüllung dieser
Anforderungen mit vielen Privilegien einhergehen, über die längst nicht alle
jungen Menschen verfügen. Auch die Unsicherheit über die zukünftige Arbeitswelt,
Automatisierung und technologische Veränderungen kann zu einem verstärkten Druck
führen. Junge Menschen befürchten, dass ihre Ausbildung möglicherweise nicht
ausreicht, um in einer sich schnell wandelnden Arbeitswelt zu bestehen.
Ferner haben die Digitalisierung und insbesondere Soziale Medien die Welt „näher
zusammengebracht“ und ermöglichen einen einfacheren Vergleich mit anderen. Durch
das Scrollen durch perfekt inszenierte Bilder von Leben und Erfolg anderer
können junge Menschen dazu neigen, ihr eigenes Leben negativ zu bewerten. Der
ständige Vergleich mit vermeintlich erfolgreichen oder glücklichen Menschen kann
Gefühle der Unzufriedenheit bei jungen Menschen verstärken. Digitale
Lebenswelten werden oft als nicht-reale Lebenswelten verkannt. Das lässt die
Tendenz zu, digitale Herausforderungen als nicht real zu bewältigende
Problemlagen zu vernachlässigen.
2.6. Herausforderungen der „Lebensphase Jugend“
Neben der Konfrontation mit zahlreichen gesellschaftlichen Krisen stehen junge
Menschen gleichermaßen vor der individuellen Herausforderung, den Übergang von
Kindheit zum Erwachsenensein (Adoleszenz) und die damit einhergehenden Umbrüche
zu gestalten. Damit einhergehen vielfältige Veränderungsprozesse und komplexe
Entwicklungsanforderungen. Die zentralen Herausforderungen der Lebensphase
Jugend sind es, eigenständig zu werden, Orientierung zu finden, soziale
Bindungen einzugehen und zu gestalten sowie Perspektiven für ihre weitere
Lebensgestaltung zu entwickeln. Diese eigenständige Lebensphase mit ihren
spezifischen Herausforderungen fordert Jugendliche und junge Menschen in ihrer
individuellen Vielfalt.[26] Zwar sind diese Herausforderungen sind nicht neu und
betreffen alle jungen Menschen gleichermaßen ,jedoch prägen die genannten Krisen
das Aufwachsen junger Menschen derzeit in ungekannter Art und Weise. Sie
betreffen gerade junge Menschen und wirken sich verstärkend auf ihre
spezifischen Belastungssituationen aus.
2.7. Individuelle Herausforderungen
Zuletzt ist es wichtig zu erwähnen, dass junge Menschen unterschiedliche
Vulnerabilitäten, Coping-Strategien und Ressourcen mitbringen. Dabei sind
insbesondere Aspekte der Entwicklungspsychologie und der individuellen
Lebensgeschichte zu berücksichtigen. Unterschiedliche Bindungsstile, die sich in
der frühen Kindheit herausbilden, können die Vulnerabilität junger Menschen
gegenüber Stressoren erheblich beeinflussen. Die Qualität der emotionalen
Bindungen zu den primären Bezugspersonen, wie Eltern oder Betreuer*innen, kann
die Bewältigungsstrategien und die Fähigkeit zur Anpassung an belastende
Situationen stark prägen. Darüber hinaus können frühkindliche Traumata, sei es
in Form von Vernachlässigung oder traumatischen Ereignissen, einen bedeutenden
Einfluss auf die psychische Verletzlichkeit junger Menschen haben. Solche
Erfahrungen hinterlassen oft tiefgreifende emotionale Spuren und können die
Fähigkeit zur Stressbewältigung erheblich beeinträchtigen. Schließlich sind auch
vorbestehende psychische Erkrankungen oder genetische Veranlagungen wichtige
Faktoren, die die individuelle Vulnerabilität beeinflussen können. Junge
Menschen mit solchen Vorerkrankungen können eine erhöhte Anfälligkeit für
Stressoren aufweisen und benötigen möglicherweise spezialisierte Unterstützung
und Interventionen, um angemessen mit Belastungen umzugehen.
2.8. Einfluss dieser Belastungen auf die mentale Gesundheit junger Menschen
Die dargestellten Gesellschaftsstrukturen und Krisen haben einen Einfluss auf
die mentale Gesundheit junger Menschen. Sie stellen umweltbedingte Stressoren
dar, die das psychische Wohlbefinden junger Menschen beeinträchtigen können.
Gleichzeitig beobachten wir, dass Ursachen der Beeinträchtigung der mentalen
Gesundheit junger Menschen häufig individualisiert werden anstatt sie in der
Beschaffenheit gesellschaftlicher Strukturen und dem Auftreten unterschiedlicher
Krisen zu suchen, die meistens von Erwachsenen verursacht wurden und werden. Es
handelt sich hier keinesfalls um ein individuelles Anpassungsproblem, sondern
eine verständliche Reaktion auf multiple Krisenphänomene.
Zudem nehmen wir wahr, dass das Thema der mentalen Gesundheit junger Menschen in
der Öffentlichkeit tabuisiert wird und nicht die Aufmerksamkeit erfährt, die
angesichts der beschriebenen Entwicklungen angebracht ist. Diese Tabuisierung
steht oft in direktem Zusammenhang mit der Schambelastung, die mit psychischen
Erkrankungen einhergeht. Viele betroffene junge Menschen fühlen sich
stigmatisiert und zögern, offen über ihre Herausforderungen zu sprechen, aus
Angst vor Vorurteilen und Ausgrenzung.
Daher ist es von entscheidender Bedeutung, nicht nur das Bewusstsein für mentale
Gesundheit zu schärfen, sondern auch eine unterstützende Umgebung zu schaffen,
in der junge Menschen ohne Angst vor Scham oder Stigmatisierung um Hilfe bitten
können. Spätestens die Zahlen zur Auswirkung der Maßnahmen im Zuge der COVID-19-
Pandemie auf die mentale Gesundheit junger Menschen hätten dazu führen müssen,
dass das Thema endlich umfassend Eingang in politische und gesellschaftliche
Diskurse findet und dort nicht defizitorientiert, sondern konstruktiv und
ressourcenorientiert behandelt wird.
Wir begreifen die Gewährleistung und Förderung der mentalen Gesundheit junger
Menschen als eine wichtige politische und gesamtgesellschaftliche Aufgabe, denn
mentale Gesundheit ist ein Menschenrecht und ein integraler Bestandteil
souveräner Lebensführung.[27] Ist die mentale Gesundheit junger Menschen
beeinträchtigt, kann dies Einschränkungen für das selbstbestimmte Aufwachsen und
die soziale Teilhabe an der Gesellschaft bedeuten. Aufklärungs-, Präventions-
und Interventionsangebote für junge Menschen sind jedoch massiv unterentwickelt.
Bestehende Unterstützungsstrukturen reichen bei weitem nicht aus, um die
multiplen Bedarfe junger Menschen abzudecken und ihrer gegenwärtigen Situation
gerecht zu werden. Weiterhin tragen sie der der Heterogenität der Zielgruppe
junger Menschen zu wenig Rechnung. Häufig werden ihnen zudem nicht die
Funktionen zugestanden, die sie für ein gesundes Aufwachsen junger Menschen
einnehmen. So hat insbesondere die Jugendverbandsarbeit als bestehende
Unterstützungsstruktur präventive und intervenierende Funktionen und Wirkweisen,
die in der Debatte deutlich zu wenig Beachtung finden.
3. Die Rolle der Jugendverbandsarbeit: Prävention und Intervention
Jugendverbandsarbeit wirkt präventiv. Jugendverbände als Werkstätten der
Demokratie schaffen eine vielfältige und ganzheitliche Umgebung für persönliches
Wachstum und soziale Teilhabe. Die gelebte Partizipation in Jugendverbänden
ermöglicht es jungen Menschen, ihre sozialen Kompetenzen zu stärken,
Verantwortung zu übernehmen und ihre persönlichen Interessen und Talente zu
entdecken ohne, dass sie für die Bedürfnisse der Wirtschaft bzw. des
Arbeitsmarktes verzweckt werden. Uns ist bewusst, dass auch ehrenamtliches
Engagement mit psychischen Belastungen und Überforderungen einhergehen kann und
wir setzen uns in unseren Organisationen dafür ein, achtsam mit der psychischen
Gesundheit unserer Ehrenamtlichen zu sein. InsbesondereInsgesamt fördern diese
Erfahrungen in Jugendverbänden aber ein gestärktes Selbstwertgefühl und ein
positives Selbstbild, was wiederum die psychische Resilienz stärkt. Indem sie
ihre eigenen Fähigkeiten erkennen und Selbstwirksamkeit erfahren, entwickeln sie
ein größeres Vertrauen in ihre eigenen Bewältigungsfähigkeiten, was psychischen
Belastungen entgegenwirken kann.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Jugendverbandsarbeit ist die Förderung von
sozialen Bindungen und einer Gemeinschaft. In der Jugendverbandsarbeit entstehen
Freundschaften und soziale Netzwerke, sodass soziale Isolation und Einsamkeit
verhindert und psychischen Belastungen präventiv begegnet werden kann. Die
Verbundenheit mit Gleichaltrigen und engagierten Betreuungspersonen hilft jungen
Menschen, sich gehört und akzeptiert zu fühlen, was sich positiv auf ihre
psychische Gesundheit auswirkt. Sie lernen auch, soziale Konflikte zu bewältigen
und Empathie zu entwickeln, was die Entstehung von emotionalen Problemen mindern
kann.
Die vielfältigen Angebote der Jugendverbände - insbesondere außeralltägliche
Formate wie Jugendreisen - übernehmen wichtige Ausgleichsfunktionen, um Stress
abzubauen. Aktuelle wissenschaftliche Erhebung zeigen auch, dass Jugendliche
insbesondere auf Freizeitmaßnahmen mehr „draußen“ sind und sich mehr
bewegen.[28] Viel Bewegung ist ein wichtiger Faktor für eine Stressregulation
und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Prävention. Aus den bisherigen
wissenschaftlichen Kenntnissen kann somit eine präventive Wirkung der
Jugend(verbands)arbeit plausibel angenommen werden. Eine weitere
wissenschaftliche Fundierung dieser Annahme und die Erarbeitung von sich aus
Untersuchungsergebnissen ableitenden Handlungsempfehlungen für die
Jugendverbandsarbeit ist wünschenswert.
Darüber hinaus leistet die Jugendverbandsarbeit Interventionsarbeit. Sie bietet
eine zugängliche und unterstützende Umgebung, in der frühzeitig auf Anzeichen
psychischer Belastungen reagiert werden kann. Durch den regelmäßigen Kontakt und
die vertrauensvolle Beziehung zu den jungen Menschen sind ehrenamtliche
Teamer*innen und Hauptamtliche oft in der Lage, Veränderungen im Verhalten, der
Stimmung oder sozialen Interaktionen zu bemerken, die auf mögliche
Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit junger Menschen hinweisen könnten.
Aufgrund des im Vergleich zum schulischen Umfeld gänzlich anders vermittelten
Vertrauensverhältnisses gehen Kinder und Jugendliche eher und häufiger auf
Haupt- und Ehrenamtliche in der Jugendverbandsarbeit zu als auf Lehrkräfte.
Weiterhin erhalten junge Menschen in Jugendverbänden Unterstützung von
Gleichaltrigen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder in der Lage sind,
empathisch zuzuhören. Peer-Unterstützung kann für junge Menschen, die mit Krisen
konfrontiert sind, besonders wertvoll sein, da sie sich oft leichter öffnen und
austauschen können. Ferner ist in Jugendverbänden eine kontinuierliche und
langfristige Begleitung junger Menschen möglich. Dies ist besonders wichtig,
wenn es um die Bewältigung von Krisen geht. Junge Menschen können in einem
unterstützenden Umfeld lernen, mit Herausforderungen umzugehen und nachhaltige
Strategien für ihre mentale Gesundheit zu entwickeln. So bieten Jugendverbände
geschützte Freiräume, in denen Kinder und Jugendliche in Gruppen durch das
begleitete Erleben und Bewältigen individueller sozialer und persönlicher
Herausforderungen und Krisen, Resilienzen aufbauen können.
4. Forderungen und Handlungsbedarfe im Bereich der sozialen Infrastruktur
Die Häufigkeit und Vielfältikeit der Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit
junger Menschen machen eine Stärkung gesamtgesellschaftlicher präventiver und
intervenierender Infrastrukturen zwingend notwendig. Bezogen auf die genannten
multiplen gesellschaftlichen Krisen und Möglichkeiten ihrer Bewältigung hat der
DBJR bereits vielfältige Forderungen formuliert, die mit den nachfolgenden
Forderungen ergänzt und bereichert werden sollen.
- Junge Menschen müssen einen leichteren und schnelleren Zugang zu
pyschologischer Versorgung erhalten. Dies beinhaltet flächendeckende
Bereitstellung niedrigschwelliger und kostenfreier psychologischer
Angebote, um frühzeitig psychische Belastungen zu erkennen und
entsprechend intervenieren zu können.Unumgänglich ist dabei der Ausbau an
auch kurzfristig verfügbaren professionellen Beratungs- und
Behandlungsplätzen für Kinder und Jugendliche. Die derzeit langen
Wartezeiten für die ambulante und stationäre Versorgung sind nicht
hinnehmbar.
- Es braucht Beratungs- und Behandlungsangebote, die die heterogenen
Lebenswelten und spezifischen Bedarfe junger Menschen angemessen
berücksichtigen z.B. Beratungsangebote für junge Menschen, die
rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind, für junge Menschen mit
einer Behinderung oder für queere Personen.
- Die Interessen junger Menschen müssen bei der Krisenbewältigung
berücksichtigt werden. Hierfür ist eine gründliche, sachliche und
reflektierte Auseinandersetzung mit den multiplen gesellschaftlichen
Krisen unserer Zeit notwendig. Ebenso zentral ist eine ehrliche, intensive
und gemeinsame Suche nach Lösungsansätzen.
- Politik und Gesellschaft müssen dringend aufhören, die Ursachen von
Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit junger Menschen zu
individualisieren. Stattdessen sollte ein holistischerer Ansatz verfolgt
werden, der auch strukturelle, soziale und umweltbedingte Faktoren
berücksichtigt. Eine solche Herangehensweise würde es ermöglichen,
tiefergehende Ursachen zu erkennen und adäquate Lösungsansätze zu
entwickeln, um die mentale Gesundheit junger Menschen nachhaltig zu
fördern.
- Es braucht einfache und klare Verfahren, um bei psychischer Belastung oder
Krankheit BAföG über die Regelstudienzeit hinaus zu erhalten, denn die
jetzigen Regelungen führen zu einem enormen Leistungsdruck gerade für
psychisch belastete oder erkrankte Studierende.
- Gesellschaftliche Armutsbekämpfung, sowie die Stärkung der Teilhabe aller
jungen Menschen stellen eine absolute Notwendigkeit dar.
- Junge Menschen müssen umfassend und niedrigschwellig über ihre Rechte in
Bezug auf die Inanspruchnahme psychologischer Hilfsangebote informiert
werden.
- Quotenregelungen und Bedarfspläne zu Kassensitzen zwischen
Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen und Neurolog*innen müssen
abgeschafft werden. Damit würde es mehr qualifizierten Absolvent*innen
ermöglicht eine eigene psychotherapeutsische Praxis zu eröffnen. Ein
Verweis auf das Kostenerstattungsverfahren für Psychotherapeut*innen der
Krankenkassen bei erfolgloser Suche nach einem Behandlungsangebot ist
besonders für junge Menschen aufwändig und nicht zumutbar.
- Bürokratische Hürden müssen zwingend abgebaut werden, um jungen Menschen
schnell und unkompliziert helfen zu können. Beispielsweise sollte der
Antrag auf Kostenerstattung für psychische Behandlung in Privatpraxen
durch die Krankenkassen erleichtert werden.
- Die niedrigschwellige Ermöglichung eines Freiwilligendienstes, ohne die
Notwendigkeit einer Begründung, um junge Menschen mit psychischen
Belastungen in Freiwilligendiensten zu entlasten und Ressourcen für die
psychische Gesundheit zu schaffen.
- Jegliche Form der Arbeitsmarktdiskriminierung aufgrund von
Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit muss zwingend und konsequent
abgeschafft werden.
- Es braucht eine gesetzliche Regelung zur angemessenen Finanzierung der
obligatorischen ambulanten und stationären Weiterbildung von
Psychotherapeut*innen, um die psychotherapeutische Versorgung für junge
Menschen sowie die berufliche Zukunft der nachkommenden
Psychotherapeut*innen zu gewährleisten.
- Die Politik sollte sinnvoll von bereits bestehenden und etablierten
Unterstützungsstrukturen Gebrauch machen. Modellvorhaben wie der Einsatz
von Mental Health Coaches an Schulen sind zwar lobenswert in ihrer
Motivation, jedoch unterliegen sie in der Praxis erneut einer Projektlogik
und können somit nicht die nachhaltige Unterstützung gewährleisten, die es
angesichts der enormen Herausforderungen bräuchte. Das Umgehen von
Regelstrukturen steht einer langfristigen Bindung entsprechend
qualifizierter Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen entgegen, prekäre
Arbeitsverhältnisse werden befördert. Eine effektive Entlastung unter
diesen Rahmenbedingungen kann nur schwer erzielt werden.
- Eine Stärkung der Geschlechtersensibilität in der Forschung, um der
systematischen Verzerrung der wissenschaftlichen Datenlage und damit der
geschlechterdiskriminierenden Gesundheitsgefährdung entgegenzuwirken.
5. Forderungen und Handlungsbedarfe im Bereich der Jugendverbandsarbeit
Darüber hinaus ergibt sich, dass Jugendverbände gerade in Krisenzeiten unbedingt
gestärkt werden müssen.
- Es braucht Qualifizierungs- und Fortbildungsformate für die haupt- und
ehrenamtlichen Strukturen. Jugendverbandsarbeit kann und darf dabei nicht
die Rolle von professioneller psychologischer und psychiatrischer Beratung
oder gar Behandlung übernehmen und auch nicht darauf reduziert werden.
Jedoch müssen niedrigschwellige Qualifizierungsangebote ausgebaut und
gefördert werden. Die staatliche Förderung solcher Schulungen,
beispielsweise zu Erster Hilfe bei psychischen Krisen ist auch deshalb
dringend nötig, damit Ehrenamtliche selbst vor Überforderung geschützt
werden.
- Jungen Menschen müssen die entsprechenden Freiräume für
selbstorganisiertes Engagement gewährt werden.
- Um die stetig steigenden Anforderungen an Jugend(verbands)arbeit
bewältigen zu können, braucht es verlässliche Förderstrukturen jenseits
von Projektlogiken[29]. Jugend hat das Recht auf die notwendige Förderung,
um die Folgen der Krisen für sich bewältigen zu können. Mit einer Stärkung
der bundeszentralen Infrastruktur geht nicht nur die Stärkung
selbstorganisierten Engagements mitsamt seinen haupt- und ehrenamtlichen
Strukturen einher. Gleichzeitig eröffnet sie auch Handlungsspielräume und
die Möglichkeit für selbstorganisierte Engagementstrukturen in
Jugendverbänden, weiterhin flexibel auf die vielfältigen Herausforderungen
unserer Zeit reagieren und jungen Menschen ein gesundes Aufwachsen in
Zeiten multipler Krisen ermöglichen zu können.
- Es braucht eine Stärkung des Austausches zwischen der Jugendverbandsarbeit
und Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen, um deren fachliche Expertise
in die Jugendverbandsarbeit einfließen zu lassen.
- Es braucht mehr Forschung zu mentaler Gesundheit in der
Jugendverbandsarbeit. Ein besonderer Fokus sollte hier auf der präventiven
Wirkung von Jugendverbandsarbeit liegen.
[1]Mentale Gesundheit ist ein Zustand des psychischen Wohlbefindens, der es den
Menschen ermöglicht, die Belastungen des Lebens zu bewältigen, ihre Fähigkeiten
zu erkennen, gut zu lernen und zu arbeiten und einen Beitrag zu ihrer
Gemeinschaft zu leisten. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil von Gesundheit und
Wohlbefinden, der unsere individuellen und kollektiven Fähigkeiten untermauert,
Entscheidungen zu treffen, Beziehungen aufzubauen und die Welt, in der wir
leben, zu gestalten (…) Mentale Gesundheit ist entscheidend für die persönliche,
gemeinschaftliche und sozioökonomische Entwicklung. Mentale Gesundheit ist mehr
als die Abwesenheit von psychischen Störungen. Es handelt sich um ein komplexes
Kontinuum, das von Mensch zu Mensch unterschiedlich erlebt wird, mit
verschiedenen Graden von Schwierigkeiten und Belastungen und potenziell sehr
unterschiedlichen sozialen und klinischen Ergebnissen“ (WHO 2022:
https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/mental-health-strengthening-
our-response).
[2]Eine psychische Erkrankung ist durch eine klinisch bedeutsame Störung der
Wahrnehmung, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person
gekennzeichnet. Sie ist in der Regel mit Stress oder Beeinträchtigungen in
wichtigen Funktionsbereichen verbunden. (WHO 2022: https://www.who.int/news-
room/fact-sheets/detail/mental-disorders).
[22]Resilienz bezeichnet die Widerstandsfähigkeit eines Individuums, sich trotz
ungünstiger Lebensumstände und kritischer Lebensereignisse (Life-Event,
kritisches) erfolgreich zu entwickeln. (Dorsch Lexikon der Psychologie:
https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/resilienz)
[29]Wir Jugendverbände und -ringe beobachten, dass sich der Fokus der
staatlichen bzw. öffentlichen Förderung eher von werteorientierten, langfristig
geförderten und in der Breite der Zivilgesellschaft verankerten Trägern
abwendet. Dies geschieht zugunsten einer „Zivilgesellschaft nach Maß“, von der
bedarfsbezogen temporäre Programme eingefordert werden. Mit den Grundprinzipien
der Kinder- und Jugendhilfe, der Kinder- und Jugendarbeit der Jugendverbände und
der politischen (Jugend-)Bildung, wie wir sie verstehen, ist das nicht
vereinbar. Es entspricht eher den Bedürfnissen der staatlichen Akteure als den
Kindern und Jugendlichen (DBJR 2020)